Das neue chinesische Zivilgesetzbuch

24.03.2021

(Autoren: Florian Kessler und Tobias Flatt)

 

Am 1. Januar 2021 ist das vom Nationalen Volkskongress der Volksrepublik China am 28. Mai 2020 verabschiedete Zivilgesetzbuch (中华人民共和国民法典; nachfolgend: ZGB) in Kraft getreten. Das ZGB steht am Ende einer Reihe von Bestrebungen, ein Zivilgesetzbuch für China zu erlassen, die bis zum Anfang des 20. Jahrhundert in die Qing-Dynastie zurückreichen. Bisher war das Zivilrecht in China von mehreren Einzelgesetzen zu verschiedenen Rechtsgebieten bestimmt (z.B. Allgemeine Grundlagen des Zivilrechts, Vertragsgesetz). Diese Rechtsgebiete werden nun einheitlich im ZGB geregelt, mit dessen Inkrafttreten die Einzelgesetze aufgehoben wurden. In weiten Teilen entspricht die Rechtslage nach dem ZGB der Rechtslage nach den Vorgängergesetzen, allerdings enthält das ZGB auch eine Reihe von neuen Bestimmungen. Mit diesem Beitrag möchten wir Ihnen die für ausländisch investierte Unternehmen relevantesten Änderungen vorstellen. 

 

Eine deutsche Übersetzung des ZGB können Sie unter diesem Link abrufen. 

 

1. Vertragsrecht

 

Bisher wurde das Vertragsrecht in China in erster Linie durch das Vertragsgesetz aus dem Jahre 1999 geregelt. Dessen Bestimmungen wurden in Teil 3 des Zivilgesetzbuchs übernommen und es wurden weitere Bestimmungen ergänzt. 

 

1.1. Allgemeine Geschäftsbedingungen 

 

Zunächst wurde der Schutz der schwächeren Vertragspartei durch angepasste Bestimmungen zu Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) im ZGB verstärkt. Bei der Verwendung von AGB ist nunmehr gem. § 496 ZGB darauf zu achten, dass die andere Seite nicht mehr nur auf haftungsbeschränkende Klauseln aufmerksam zu machen ist (so bisher im Vertragsgesetz), sondern das ZGB zusätzlich fordert, dass auf alle Klauseln, die für die andere Seite von erheblichem Interesse sind, aufmerksam gemacht wird. Das Aufmerksammachen muss in "angemessener Art und Weise" erfolgen, wobei nicht näher bestimmt wird, welche konkreten Anforderungen damit gemeint sind. Nach Auslegungen des Obersten Volksgerichts zum alten Recht, kann davon ausgegangen werden, dass die die AGB stellende Partei „angemessen“ gehandelt hat, wenn die entsprechenden Klauseln mit besonderen Merkmalen unter Verwendungen von Worten, Symbolen oder Schriftarten hervorgehoben wurden. Es darf erwartet werden, dass der Oberste Volksgerichtshof sich ähnlich zur neuen Rechtslage positioniert. Auf Verlangen der anderen Seite sind die entsprechenden Klauseln ferner zu erklären. Wird diese Pflicht zur Aufmerksammachung und Erklärung nicht erfüllt, kann die andere Seite geltend machen, dass die entsprechenden Klauseln nicht Bestandteil des Vertrages geworden sind. Zum Vergleich: Im deutschen AGB-Recht ist nicht auf einzelne für die andere Seite besonders relevante Klauseln aufmerksam zu machen, sondern es ist grundsätzlich auf die AGB insgesamt hinzuweisen (§ 305 Abs. 2 Nr. 1 BGB). Schließlich gibt es im deutschen Recht keine Erklärungspflicht gegenüber der Vertragspartei in Bezug auf einzelne AGB-Klauseln. 

Bei der Verwendung von AGB in China sollte angesichts dieser strengen Anforderungen sichergestellt werden, dass die Gegenseite auf relevante Klauseln aufmerksam gemacht wird und die Klauseln ggf. erklärt werden, damit Streitigkeiten über die Gültigkeit der Klauseln vermieden werden können. In der Praxis empfiehlt es sich im B2B-Geschäft auch häufig, mit individuell ausgehandelten Rahmenverträgen, statt mit AGB zu arbeiten. 

 

1.2 Störung der Geschäftsgrundlage

 

Neu ist auch eine Bestimmung zur Störung der Geschäftsgrundlage, die bisher lediglich in einer Auslegung des Obersten Volksgerichts enthalten war. Bei unvorhersehbaren, schwerwiegenden Änderungen der Umstände, die die weitere Erfüllung des Vertrages für eine Partei offensichtlich unbillig macht, kann diese Partei eine Anpassung des Vertrags verlangen (§ 533 ZGB). Umfasst sind nun offenbar auch Umstände, die durch höhere Gewalt verursacht wurden, da diese nicht mehr ausdrücklich ausgeschlossen werden, wie es noch in den Auslegungen des Obersten Volksgerichts der Fall war. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der Covid-19-Pandemie von Bedeutung, da Verträge, die durch die Pandemie für eine Vertragspartei offensichtlich unbillig geworden sind, nun ggf. auf der Grundlage der neuen Bestimmung im ZGB angepasst oder aufgehoben werden können. Auf unserer Webseite finden Sie weitere Handlungsempfehlungen zum Umgang mit vertraglichen Unsicherheiten in der Corona-Pandemie unter diesem Link

 

1.3 E-Commerce-Verträge

 

Das ZGB bestimmt in § 491 Abs. 2 ZGB nun generell, dass bei der Bestellung von Waren oder Dienstleistungen im Internet der Vertrag schon mit Aufgabe der Bestellung zustande kommt, sofern die zur Verfügung gestellten Informationen die notwendigen Angaben für ein Angebot enthalten. Das E-Commerce-Gesetz sah schon eine wortgleiche Bestimmung vor, allerdings ist dessen Anwendungsbereich eingeschränkt und bezieht sich in erster Linie auf die Betreiber von E-Commerce-Plattformen. Die Regelung im ZGB geht jetzt darüber hinaus und betrifft z.B. auch die Aktivitäten von Privaten auf Secondhand-Plattformen. Soll erst die Bestätigung der Bestellung zum Vertragsschluss führen, weil z.B. die Warenbestände und Lieferkapazitäten nicht direkt mit der Webseite des Internet-Shops verbunden sind, ist dies ggf. in den AGB abzubilden. 

 

1.4 Ordentliches Kündigungsrecht bei Dauerschuldverträgen

 

Bisher sah das chinesische Vertragsrecht kein allgemeines ordentliches Kündigungsrecht von unbefristeten Verträgen vor. In den Bestimmungen zu einzelnen Vertragstypen waren teils ordentliche Kündigungsrechte geregelt (z.B. beim Arbeitsvertrag), aber andere unbefristete Verträge konnten bisher nur beendet werden, wenn der jeweilige Vertrag selbst eine entsprechende Kündigungsregel vorsah, die Vertragsparteien sich einvernehmlich auf die Beendigung des Vertrages geeinigt hatten oder wenn einer der gesetzlichen Kündigungsgründe vorlag. Das ZGR führt nun für alle unbefristeten Dauerschuldverhältnisse ein ordentliches Kündigungsrecht mit angemessener Frist ein (§ 563 Abs. 2 ZGB). Nach welchen Kriterien die Angemessenheit dieser Frist zu bestimmen ist, ist noch offen. Wahrscheinlich wird es jeweils auf eine Einzelfallbetrachtung ankommen. 

 

1.5 Vorverträge

 

Bisher nur in Auslegungen des Obersten Volksgerichts enthalten, definiert § 495 ZGB nun Vorverträge als Zeichnungsurkunden, Bestellurkunden, Vorbestellurkunden etc., in denen die Parteien vereinbaren, zukünftig innerhalb einer bestimmten Frist einen Vertrag abzuschließen. Erfüllt eine der Parteien die im Vorvertrag festgehaltene Pflicht, einen Vertrag abzuschließen, nicht, führt dies zu einer Haftung für (Vor-)Vertragsverletzung. Offen bleibt, ob mit dieser Haftung nur Schadensersatz in Geld gemeint ist oder sogar Erfüllung in Form z.B. der Unterzeichnung eines (Haupt-)Vertrages. Da Vorverträge, Letters of Intent etc. im geschäftlichen Umfeld weit verbreitet sind, sollte sich im Lichte dieser Vorschrift stets die rechtliche Reichweite einer Vorvereinbarung bewusstgemacht werden und ggf. eine klare Regelung zu dessen rechtlicher Verbindlichkeit festgehalten werden, um Haftungsrisiken zu vermeiden. Üblich ist es z.B., in einem Letter of Intent explizit festzuhalten, dass keine Verpflichtung besteht, später den Vertrag zu schließen. 

 

1.6 Neue Vertragstypen

 

Zusätzlich zu den 15 schon im Vertragsgesetz geregelten Vertragstypen, enthält das ZGB vier neue Vertragstypen (Factoring Vertrag, Immobiliendienstvertrag, Partnerschaftsvertrag und Bürgschaftsvertrag). Diese zusätzlichen Vertragstypen sind bei dem Entwurf von Verträgen zukünftig zu berücksichtigen, wobei weiterhin die Anforderungen an den jeweiligen Einzelfall zu beachten sind, der mitunter Abweichungen von den typisierten Verträgen erforderlich macht. Die Einführung des ZGB kann jedoch als Anlass genommen werden, bestehende Vertragsvorlagen zu prüfen und ggf. an die neue Rechtslage anzupassen. 

 

1.7 Bürgschaftsverträge

 

Bürgschaftsverträge sind dem chinesischen Recht nicht völlig neu, sondern waren bisher im Sicherheitengesetz geregelt. Im Vergleich zur vorigen Rechtslage ergibt sich jedoch ein wesentlicher Unterschied. So kennt das chinesische Zivilrecht zwei Arten von Bürgschaften: die gewöhnliche Bürgschaft sowie die gesamtschuldnerische Bürgschaft. Bei der gewöhnlichen Bürgschaft ist der Bürge berechtigt, die Bürgschaftshaftung gegenüber dem Gläubiger abzulehnen, solange dieser nicht alle Rechtsmittel gegen den ursprünglichen Schuldner ausgeschöpft hat, während der Bürge bei der gesamtschuldnerischen Bürgschaft haftet, sobald der Schuldner fällige Verbindlichkeiten nicht erfüllt. Eine gesamtschuldnerische Bürgschaft nach dem ZGB entspricht im Wesentlichen einer selbstschuldnerischen Bürgschaft nach deutschem Recht, also einer Bürgschaft unter Verzicht auf die Einrede der Vorausklage. Während nach dem Sicherheitengesetz noch eine Vermutung für eine gesamtschuldnerische Haftung bestand, stellt § 686 Abs. 2 ZGB eine Vermutung für eine gewöhnliche Bürgschaft auf. Haben die Parteien im Bürgschaftsvertrag also die Art der Bürgschaft nicht bestimmt, wird für eine gewöhnliche Bürgschaft gehaftet. Das neue Recht soll die Streuung von Kreditrisiken verhindern und bürgenfreundlicher sein. Ob chinesische Kreditinstitute sich aufgrund der geänderten Vermutungsregel zukünftig vermehrt mit gewöhnlichen Bürgschaften zufriedengeben, darf jedoch bezweifelt werden. Auch in Deutschland stellt die selbstschuldnerische Bürgschaft in der Praxis die Regel dar.

 

2. Persönlichkeitsrechte

 

Teil 4 des ZGB über Persönlichkeitsrechte beruht anders als die anderen Teile des ZGB nicht auf einem Vorgängergesetz. Teilweise stammen die Bestimmungen aus den Allgemeinen Grundsätzen des Zivilrechts aus dem Jahre 1986, teilweise aus Verwaltungsvorschriften und gerichtlichen Auslegungen. Geschützt sind insbesondere das Recht auf Leben, auf körperliche Unversehrtheit und Gesundheit, das Namensrecht, das Recht am eigenen Bild, das Recht auf Ansehen und Ehre und das Recht auf Privatsphäre und Schutz personenbezogener Daten. 

 

2.1 Recht auf Privatsphäre und Schutz personenbezogener Daten

 

Schon vor Inkrafttreten des ZGB kannte das chinesische Recht Bestimmungen zum Schutz personenbezogener Daten (insbesondere im Cybersecurity-Gesetz) und in nächster Zeit werden vom Nationalen Volkskongress mit dem Gesetz zum Schutz persönlicher Informationen sowie dem Datensicherheitsgesetz zwei weitere Gesetze in diesem Bereich erwartet. Für beide Gesetze liegt bereits ein Entwurf vor. 

 

Erstmals enthält das chinesische Recht in § 1032 ZGB eine Definition für Privatsphäre, die den Frieden des Privatlebens und der Privaträume, private Aktivitäten und private Informationen einer natürlichen Person, von denen sie nicht möchte, dass andere davon erfahren, umfasst. Gem. § 1033 ZGB darf grundsätzlich niemand das Recht auf Privatsphäre einer anderen Person verletzen. Neben der Privatsphäre kennt das ZGB noch das Konzept der persönlichen Informationen, die in § 1034 Abs. 2 ZGB als Informationen aller Art, die elektronisch oder auf andere Weise aufgezeichnet werden und die entweder allein oder in Kombination mit anderen Informationen eine bestimmte natürliche Person identifizieren können, definiert sind. Dabei sind private Informationen innerhalb der persönlichen Informationen wiederum Teil des Anwendungsbereichs des Rechts auf Privatsphäre. 

 

§§ 1035-1038 ZGB enthalten Prinzipien und Verantwortlichkeiten der Verarbeitung von persönlichen Informationen. § 1035 ZGB fasst dabei den Begriff der „Verarbeitung persönlicher Informationen“ weit; erfasst sind etwa die Sammlung, Speicherung, Nutzung, Bearbeitung, Weitervermittlung, Zurverfügungstellung oder Veröffentlichung. Bei der Verarbeitung ist insbesondere zu beachten, dass das Einverständnis der Person eingeholt, die Regeln für die Verarbeitung veröffentlicht, Zweck, Art und Umfang der Verarbeitung ausdrücklich benannt worden sind und die Verarbeitung nicht gegen gesetzliche Bestimmungen oder Vereinbarungen zwischen den Parteien verstößt. § 1037 ZGB gibt Personen ferner das Recht, ihre gesammelten persönlichen Informationen einzusehen und bei fehlerhaften Informationen Korrektur zu verlangen.

 

Die Verarbeitung von persönlichen Informationen betrifft heutzutage im Grunde jedes Unternehmen. Sowohl im Mitarbeitermanagement als auch im Kundenkontakt ist die Verarbeitung von persönlichen Informationen unerlässlich. Spätestens seit dem Cybersecurity-Gesetz müsste der Schutz personenbezogener Daten als Thema bei den meisten Unternehmen eine zentrale Rolle eingenommen haben. Das ZGB sowie weitere Gesetzesvorhaben in diesem Bereich unterstreichen noch einmal den Fokus des chinesischen Gesetzgebers auf den effektiven Schutz von Privatsphäre und persönlichen Informationen (vgl. auch einen Beitrag zu neuen Entwicklungen im chinesischen Datenschutzrecht auf unserer Webseite unter diesem Link). Unternehmen sollten daher das Inkrafttreten des ZGB (noch einmal) zum Anlass nehmen, ihre jeweiligen internen Regelungen zu überprüfen und bei Bedarf an die neuen Anforderungen anzupassen. 

 

2.2 Schutz vor sexueller Belästigung

 

Das ZGB setzt im Rahmen der Persönlichkeitsrechte außerdem einen Fokus auf den Schutz vor sexueller Belästigung (§ 1010 ZGB). So erfasst das ZGB nicht mehr nur sexuelle Belästigung von Frauen, sondern ist geschlechtsneutral formuliert. Sexuelle Belästigung kann etwa in Form von Worten, Texten, Bildern oder körperlichen Handlungen begangen werden. Neben einem Schadensersatzanspruch gegen den Täter, verpflichtet das ZGB nunmehr auch Unternehmen (sowie Behörden, Schulen etc.), Maßnahmen zu ergreifen, um Belästigung am Arbeitsplatz zu verhindern, Beschwerden entgegenzunehmen und diese zu untersuchen. Die Rolle des Unternehmens bei der Verhinderung und Aufklärung von sexueller Belästigung wird damit noch einmal betont. Unternehmen sollten ihre internen Richtlinien und Prozesse in Bezug auf sexuelle Belästigung im Mitarbeiterhandbuch o. Ä. spezifizieren, ein System aufbauen, das regelt, wie in Privatsphäre wahrender Weise mit Beschwerden umgegangen wird und gegebenenfalls Mitarbeiterschulungen durchführen. 

 

3. Haftung für unerlaubte Handlung

 

Teil 7 des ZGB basiert auf dem Deliktsgesetz aus dem Jahre 2009 und regelt die Haftung für unerlaubte Handlungen. Während große Teile der bisherigen Bestimmungen übernommen wurden, wurden auch einige neue eingefügt.

 

3.1 Strafschadensersatz 

 

Eine verschärfte Haftung in Form von sog. Strafschadensersatz ist im ZGB bei vorsätzlicher Verletzung der Rechte am geistigen Eigentum (§ 1185 ZGB) bestimmt. Bisherige Gesetze sahen Strafschadensersatz nur bei einzelnen Verletzungen von geistigem Eigentum vor (z.B. Marken und Geschäftsgeheimnisse). Von § 1185 ZGB sind nun jegliche Rechte am geistigen Eigentum erfasst. Neu im ZGB ist auch Strafschadensersatz bei vorsätzlich zugefügten Umweltschäden (§ 1232 ZGB). Aus den Regelungen geht jeweils nicht hervor, wie der Strafschadensersatz berechnet wird. Gerichtliche Interpretationen wie z.B. des Höheren Volksgerichts in Peking vom April 2020 können jedoch sicherlich als Orientierung herangezogen werden. Insbesondere der Strafschadensersatz für Verletzungen des geistigen Eigentums stellt ein Mittel dar, dass den Schutz der Rechte am geistigen Eigentum weiter verbessert, indem es den Geschädigten eine zusätzliche Handlungsmöglichkeit gibt, gegen Verletzungen vorzugehen.